Seelenrückholung (von Sandra Ingerman)
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit anderen Mitgliedern Ihrer Gemeinschaft in einem Kreis. Sie sind zusammengekommen, um ein Mitglied der Gemeinde, welches eine traumatische Erfahrung hatte, zu unterstützen. Sie wissen, wenn eine Person leidet oder krank ist, betrifft das die ganze Gemeinschaft. Sie sind also gekommen, um zu helfen und einen Raum zu schaffen und zu halten, in dem Heilung geschehen kann.
Es ist dunkel und die Sterne leuchten hell am Nachthimmel. Die Luft ist still. Jeder fühlt sich von den liebenden Armen des Universums gehalten und es gibt keinen Zweifel, dass Heilung für alle hier Versammelten geschehen wird.
Die Schamanin beginnt zu trommeln und zu tanzen und ruft die Kraft des Universums zu sich, während sie ihr Ego beiseiteschiebt und zu einem leeren Gefäß wird, das sich durch die Hilfe der Geistwesen füllt.
Der Klient liegt still in der Mitte und atmet tief, um in einem empfänglichen Zustand zu sein, wenn seine verlorene Seele, seine verlorene Vitalität zurückkommt.
Die Schamanin singt ihre Reise vielleicht laut vor, während sie nach Spuren sucht, wohin die Seele geflohen ist. Wenn sie die Seele gefunden hat, kehrt sie zurück und bläst sie tief in das Herz der Klientin ein, wobei der gesamte Körper mit dem Licht des Lebens erfüllt wird.
Alle sind von großer Freude erfüllt, denn wenn einer geheilt wird, werden alle geheilt. Die Gemeinschaft ist wieder ganz und kann in Frieden und Harmonie leben.
Die Arbeit ist getan.
Schamanismus ist die älteste spirituelle Praxis der Menschheit. Wir haben archäologische Beweise, dass Schamanismus überall auf der Welt mindestens seit 40.000 Jahren praktiziert wurde. Viele Anthropolog*innen glauben jedoch, dass diese Praxis über 100.000 Jahre zurückgeht. Und das Erstaunlichste daran ist, dass auch heute noch Schamanismus weltweit ausgeübt wird. Eine Praxis, die so weit zurück reicht und auch heute noch verwendet wird, muss sehr kraftvoll sein.
Das Wort Schamane kommt vom Stamm der Tungus in Sibirien und bedeutet „Einer, der im Dunkeln sieht“. Schamanismus wurde und wird ausgeübt in Teilen Asiens, Europas, Afrikas, Australiens, in Grönland, und bei den Naturvölkern in Nord- und Südamerika.
Ein Schamane ist ein Mann oder eine Frau, die direkt mit Geisthelfern zusammenarbeitet, um die spirituellen Aspekte von Krankheit zu benennen, Seelenrückholungen durchzuführen, um Informationen zu erlangen, den Toten zu helfen, hinüberzugehen und eine Reihe von Zeremonien für die Gemeinschaft durchzuführen. Schaman*innen übernehmen in Stammesgemeinschaften viele Rollen. Sie handeln als Heiler*innen, Ärzt*innen, Priester*innen, Psychotherapeut*innen, Mystiker*innen und Geschichtenerzähler*innen.
Schaman*innen betrachten die spirituelle Form einer Krankheit, die sich auf einer emotionalen oder körperlichen Ebene manifestieren kann. Als ich die Forschungsarbeit für mein Buch „Seelenrückholung“ anstellte, fand ich heraus, dass die meisten schamanischen Kulturen überall auf der Welt glauben, dass Krankheit auf einen Seelenverlust zurückzuführen ist.
Man glaubt, dass, wann immer wir ein emotionales oder physisches Trauma erleben, ein Teil der Seele aus dem Körper flüchtet, um diese Erfahrung zu überleben. Die Definition von Seele, die ich verwende, ist Seele als unsere Essenz, Lebenskraft, der Teil unserer Vitalität, der uns lebendig und gesund erhält.
Die Arten von Trauma, die in unserer Kultur Seelenverlust verursachen können, sind alle Arten von Missbrauch, sexueller, physischer oder emotionaler Natur. Andere Gründe könnten ein Unfall, das Erleben eines Kriegs, Opfer eines Terroranschlags zu sein, gegen unsere Moral zu handeln, eine Umweltkatastrophe mitzuerleben (Feuer, Hurrikan, Erdbeben, Tornado, usw.), eine Operation, Suchtverhalten, Scheidung, oder der Tod eines geliebten Menschen sein.
Jedes Ereignis, das Schock auslöst, kann einen Seelenverlust verursachen. Was Seelenverlust bei einer Person bewirken kann, muss das nicht auch bei einer anderen Person tun. Schaman*innen glauben, dass manchmal sogar ein Wecker Seelenverlust hervorrufen kann. Ich glaube, wir alle wissen, was sie damit meinen.
Es ist wichtig zu verstehen, dass das Erleben eines Seelenverlusts etwas Gutes ist.
Dadurch überleben wir Schmerz. Wenn ich einen Frontalzusammenstoß erlebte, wäre der letzte Punkt, an dem ich mich zum Zeitpunkt des Aufpralls befinden möchte, mein Körper. Meine Seele könnte diese Art von Schmerz nicht aushalten. Also besitzen unsere Seelen diesen genialen Selbstverteidigungsmechanismus, wo ein Teil unserer Essenz oder Seele den Körper verlässt, so dass wir nicht die volle Kraft des Schmerzes fühlen.
In der Psychologie nennt man das Dissoziation. Aber in der Psychologie sprechen wir nicht darüber, was dissoziiert wird und wo es hingeht. Im Schamanismus ist bekannt, dass ein Teil der Seele den Körper verlässt und in einen Bereich geht, den die Schaman*innen Nicht-Alltägliche-Wirklichkeit (NAW) nennen, wo dieser Teil wartet, bis jemand in den spirituellen Bereichen interveniert und eine Rückkehr ermöglicht.
Obwohl Seelenverlust ein Überlebensmechanismus ist, gibt es vom schamanischen Standpunkt aus gesehen ein Problem, denn der Teil, der wegging, kommt nicht immer von selbst zurück. Die Seele mag verloren gegangen sein oder von einer anderen Person gestohlen worden sein oder sie weiß nicht, dass das Trauma vorüber ist und es sicher ist, zurückzukehren.
Es war immer die Aufgabe der Schaman*innen, sich in einen veränderten Bewusstseinszustand zu versetzen und herauszufinden, wohin die Seele in den anderen Wirklichkeiten geflohen war und sie in den Körper der Klient*innen zurückzubringen.
Es gibt viele verschiedene Symptome von Seelenverlust. Eine der bekannteren wäre die Dissoziation, bei der sich eine Person nicht vollständig in ihrem Körper befindet und sich daher als nicht lebendig und voll im Leben engagiert erlebt. Andere Symptome äußern sich in einer chronischen Depression, Selbstmordabsichten, einem posttraumatischem Stress-Syndrom, Immunschwäche und Kummer, der nicht heilt.
Suchtverhalten ist ebenfalls ein Zeichen von Seelenverlust, weil wir äußere Quellen suchen, um die leeren Räume in uns zu füllen, ob durch Drogen, Essen, Beziehungen, Arbeit oder durch den Kauf von materiellen Dingen.
Jedes Mal, wenn jemand sagt, „Ich bin seit einem gewissen Ereignis nicht mehr ich selbst“, und dies keine Veränderung zum Positiven bedeutet, hat sich möglicherweise ein Seelenverlust ereignet.
Man kann heute sehen, wie viel Seelenverlust es gibt, da wir Geld höher bewerten als Leben. Jedes Mal, wenn jemand sagt, wir müssen andere Lebensformen um des Gewinns wegen töten, dürfte diese Person an Seelenverlust leiden. Es gibt heute viel Seelenverlust auf dem Planeten, was an der Art und Weise zu erkennen ist, wie wir miteinander und mit dem Rest alles Lebenden umgehen.
Auch Koma bedeutet Seelenverlust. Bei einem Komazustand befindet sich der Großteil der Seele außerhalb des Körpers. Aus verschiedenen Gründen ist es heute sehr kompliziert mit einem Koma zu arbeiten. Es braucht viel Geschick auf Seiten der Schaman*innen, um herauszufinden, welchen Weg die Seele zu gehen versucht. Will die Seele in den Körper zurückkehren oder will sie weitergehen, was zum Tod des Patienten führen würde? Es wäre noch viel dazu zu sagen, aber das geht über den Rahmen diese Artikels hinaus.
Heutzutage gibt es ein wieder auflebendes Interesse an schamanischen Praktiken. Es gibt bereits eine Vielzahl von wunderbaren schamanisch Praktizierenden, welche die Praxis der Seelenrückholung in unserer Kultur wieder einführen.
Es ist interessant, festzustellen, dass in schamanischen Kulturen eine Seelenrückholung innerhalb von drei Tagen nach dem Auftreten des Traumas erfolgte.
Dadurch, dass wir die Seelenrückholung nicht unmittelbar nach dem Verlust durchführen, müssen moderne schamanisch Praktizierende oft zehn, zwanzig, dreißig, vierzig oder sogar noch mehr Jahre zurückgehen, um nach verlorenen Seelenteilen zu suchen.
In schamanischen Kulturen wussten die einzelnen Menschen noch, was in ihrem Leben aus dem Gleichgewicht geraten war und eine Krankheit oder ein bestimmtes Thema hervorgerufen hatte.
In unserer Kultur sind wir uns dessen nicht bewusst, was aus der spirituellen Harmonie geraten ist und Krankheit hervorruft. Da wir beim Seelenverlust oft noch sehr jung waren, ist uns nicht klar, welche unbewussten Muster wir da ausleben, die auf unseren ersten Seelenverlust zurückgehen. Wir versuchen immer unsere Seele zurück zu bekommen. Wir tun dies dadurch, dass wir dasselbe Trauma immer und immer wieder wiederholen. Die Namen der Menschen in unserer Lebensgeschichte mögen sich verändern, aber die Geschichte bleibt dieselbe.
Die Wirkungen einer Seelenrückholung sind von Person zu Person verschieden. Einige Leute fühlen sich mehr geerdet und stabiler. Einige Leute fühlen sich leichter und leben auf eine freudvollere Weise. Für einige andere werden Erinnerungen an vergangene Traumata ausgelöst, welche eine Vielzahl von Gefühlen mit sich bringen, die durchgearbeitet werden müssen. Und bei einigen Leuten sind die Auswirkungen so subtil, dass sie keine Veränderung bemerken, bevor nicht weitere Integrationsarbeit gemacht wird.
Wenn wir uns präsenter in unserem Körper und in der Welt erleben, fällt uns ein Verhalten auf, das aus dem Gleichgewicht und unharmonisch ist.
Wenn wir abgestumpft sind, fällt uns vielleicht auf, dass etwas nicht richtig läuft, aber es ist sehr einfach, sich davon abzulenken. Manchmal möchten wir nicht wahrhaben, dass eine Veränderung ansteht. Wenn wir ganz „be-geist-ert“ sind, gibt es keinen Platz, an den wir uns zurückziehen können und wir sind eher angeregt, unser Leben zu verändern.
Ich bin der Überzeugung, wenn einer Klient*in ihre Seele zurückgebracht wird, muss sie danach selbst ihre Arbeit tun. Wenn eine Klient*in schon viel mit sich gearbeitet hat, kann die Seelenrückholung das Ende der Arbeit bedeuten. Wenn nicht, kann die Seelenrückholung der Beginn der Arbeit sein.
Es liegt jetzt an der Klient*in, eine gesunde Lebensweise für sich zu erschaffen und gesunde Beziehungen zu leben, die Ganzheit und ein Leben erfüllt mit Heilung unterstützen. Wie wollen wir die Energie, die durch die Seelenrückholung zurückgebracht wurde und unsere wiedergewonnene Vitalität verwenden, um eine positive Gegenwart und Zukunft für uns selbst zu erschaffen? Und wie bringen wir Begeisterung und Sinn wieder in unser Leben, damit wir aufblühen und nicht nur überleben? All diese Themen betreffen das, was ich „Leben nach der Heilung“ nenne, und sie sind entscheidend für eine anhaltende Heilung nach der Seelenrückholung.
Ich schreibe über spirituelle Praktiken, die wir in unser Leben einbringen können, um in der Gegenwart eine positive Zukunft zu erschaffen, in meinen Büchern „Heimkehr der Seele“ und „Heilung für Mutter Erde“.
Wenn Sie sie lesen, können Sie sicher erkennen, welche Bedeutung einer Seelenrückholung in Ihrem eigenen Leben zukommt und wie wichtig es ist, dass wir Menschen wieder „mit Geist erfüllt werden“ für das Heil des Planeten.
Das ist eine lebenswichtige Aufgabe für die Zeit, in der wir leben. Die Erde möchte, dass ihre Kinder „zu Hause“ sind, und zwar jetzt. Es ist Zeit, wieder nach Hause zu kommen und unseren richtigen Platz einzunehmen. Es ist unser Geburtsrecht, die Kraft unserer Seele auszudrücken und die Welt zu erschaffen, in der wir leben wollen. Es ist genauso unser Geburtsrecht so hell wie die Sterne über uns zu strahlen. Es ist Zeit, unser Licht in der Welt erstrahlen zu lassen.
© Copyright 2020 Sandra Ingerman. Alle Rechte vorbehalten. Übersetzung Astrid Johnen
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